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Title
“Ein vordringlich europäisches Problem”. Umweltverschmutzung und saarländische Umweltdebatte im deutsch-französischen Grenzgebiet 1945 bis in die 1960er Jahre


Author(s)
Kaesler, Jonas
Series
Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte
Extent
452 S.
Price
€ 39,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Armin Heinen, Historisches Institut, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen

Beeindruckend ist die Quellenbasis, die Jonas Kaesler zu den französisch-saarländischen Umweltkonflikten Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre ausgewertet hat: Material aus dem Französischen Nationalarchiv hat er eingesehen, Departementsunterlagen, Unternehmensarchive, einschlägige Quellenbestände des Landesarchivs Saarbrücken, dazu Privatarchive. Wir erfahren von den Anfängen der Umweltverschmutzung im Saarland bereits Ende des 19. Jahrhunderts. Schon damals erwiesen sich die industriellen Umweltbelastungen entlang der Saar als kaum beherrschbar – wegen der Grenze zu Lothringen und damit den verwaltungstechnischen Sonderheiten der Region, obwohl das Deutsche Reich sich die Provinz doch einverleibt hatte. Der Erste Weltkrieg und seine Folgen verhinderten selbstbewusste staatliche Interventionen. Jedenfalls unterblieben erfolgreiche Eingrenzungen der Umweltschädigungen, obwohl es technische Lösungen gab. Stattdessen lag der Fokus auf einem modus vivendi. Die Rossel wurde zum Industriefluss erklärt, vergleichbar der Emscher im Ruhrgebiet. Und so blieb es bis nach dem Zweiten Weltkrieg.

Mehr als 200 Seiten umfasst die ausführliche Vorgeschichte des referierten Bandes, bis der Autor sich seinem eigentlichen Thema zuwendet, dem Wirken der Notgemeinschaft Kleinblittersdorf und dem Aufbegehren der Interessengemeinschaft der HBL-Geschädigten (die Abkürzung bezeichnete die Houillères du Bassin de Lorraine, also die Kohlebergwerke des grenzüberschreitenden Lothringer Reviers). Die erste Gruppe wandte sich gegen die Luftverschmutzung durch ein fehlerhaft geplantes Kohlekraftwerk westlich der Saargrenze. Die zweite Gruppe opponierte gegen die regelmäßigen Überschwemmungen der Rossel, ausgelöst durch die Verschmutzung des Flüsschens mit Schlamm und Abwässern im lothringischen Industriegebiet. Zuvor wird der Leser vertraut gemacht mit der Geschichte des Kohlebergbaus im Saarland seit dem 18. Jahrhundert und mit den politischen Gegebenheiten, also vor allem dem Sonderstatus des Saarraums, 1918–1935 und 1945–1956. Die Ausnutzung der saarländischen Warndtkohle durch die HBL wird ausführlich thematisiert und damit das politische Leitthema der Studie angerissen, nämlich die von französischer Seite zu verantwortende Umweltbelastung als typisches Kolonialverhalten. Freilich, darüber ließe sich lange diskutieren, denn seit 1957/59 ging es nicht mehr um ein teilautonomes, wirtschaftlich eng mit Frankreich verflochtenes Gebiet, sondern um die Interessen des „deutschen“ Nachbarstaates. Im Übrigen unterschied sich die paternalistische Politik der HBL kaum von der saarländischer Unternehmen: Ferienheime in fernen, naturverwöhnten (französischen) Gebieten sollten die Gesundheit und den Lebensmut der eigenen Belegschaft stärken, eine produktive Auszeit vom täglichen Industriealltag sicherstellen, nur dass vergleichsweise wenige Saarländer als HBL-Mitarbeiter einen Vorteil davon hatten.

Auf Seite 217 wird es schließlich ernst. Hier beginnt der Autor seine eigentliche Erzählung mit dem Bau des HBL-Kraftwerks in Grosbliederstroff, unmittelbar an der Grenze zum Saarland. Geplant war eine Quadratur des Kreises: eine ökonomisch attraktive Verwendung der nicht-kommerzialisierbaren Kohlenqualitäten, eine Stärkung der Energiebasis für Lothringen, eine nachholende Industrialisierung für Frankreich insgesamt. Selbst an Rußfilter dachte man und an Schornsteine. Aber was schließlich realisiert wurde, genügte technisch bei Weitem nicht den Anforderungen, mit Folgen sowohl auf französischer Seite als auch auf saarländischer: Die Filter waren viel zu klein geplant und funktionierten zudem nicht richtig. Es gab zwar Schornsteine, aber die waren „zu niedrig geraten“. „Die HBL“ reagierten mit: „Schweigen, Abstreiten, wissenschaftlichen Expertisen, Entschädigungsangeboten“, jedenfalls auf französischer Seite, im lothringischen Raum also. Es folgten Investitionen in neue Technik und höhere Schornsteine. Dies war der gewohnte Verlauf, wie er sich spätestens im 19. Jahrhundert ausgebildet hatte. Aber mit dem Volksentscheid von 1955 hatte sich das Saarland gegen eine Fortführung der Wirtschaftsunion mit Frankreich entschlossen, hatte eine Mehrheit den politischen Anschluss an Deutschland unterstützt. Die auf saarländischer Seite Betroffenen fühlten sich in dieser Situation ohnmächtig, denn sie hatten keinen verlässlichen Zugriff mehr auf die französischen Verantwortlichen und das französische Rechtssystem. So setzten sie auf die bundesrepublikanische Öffentlichkeit, auf direkten Kontakt zu den Landesbehörden, auch auf Hilfen aus Bonn. Die HBL zeigte ihren guten Willen, beauftragte eine deutsche Firma mit der Nachrüstung des Kohlekraftwerkes. Auch die Schornsteine wurden erhöht, was zwar keine Verringerung der Schadstoffbelastung brachte, aber eine stärkere Verdünnung der Emissionen in der Luft. Später erhielt die Gemeinde Kleinblittersdorf noch einen nennenswerten Zuschuss von 600.000 DM für ein neues Freischwimmbad. Im Gegenzug löste sich die Kleinblittersdorfer Notgemeinschaft auf.

Als „vorökologisch“ hat Jens Ivo Engels die 1950er- und 1960er-Jahre charakterisiert, geprägt durch Naturschützer und oligarchisch geführte Interessenverbände, welche sich für den Erhalt ihres Lebensraums und den Schutz ihres Eigentums einsetzten.1 Da der Darmstädter Umwelthistoriker auch die Proteste in Kleinblittersdorf untersucht hat, blieb Jonas Kaesler für seine eigene Arbeit nicht viel Spielraum. Anders als Engels richtet er seinen Blick denn auch weniger auf die Protestformen denn vor allem auf die handelnden Akteure selbst, im Falle Kleinblittersdorfs vor allem auf die Funktion des Bürgermeisters Karl Brettar für die Strukturierung der Auseinandersetzung. In der Folge entwickelt der Verfasser ganz unterschiedliche Erzählstränge, einerseits eine Erzählung von den HBL, typisiert als Unternehmen. Hier interessieren die HBL als Aggregatgröße, als kollektiver Akteur. Auf der anderen Seite stehen die Initiativen einzelner Saarländer mit ihren differierenden Strategien, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, Geld für Kampagnen einzuwerben, politische Allianzen herzustellen. Letzteres fiel dem gut vernetzten Kleinblittersdorfer Bürgermeister trotz allem schwer, weil jegliche Politisierung des deutsch-französischen Verhältnisses die beginnende Aussöhnung erschweren musste.

Ganz ähnliche Erfahrungen machten auch die von der Verschmutzung der Rossel Betroffenen: „Schweigen, Abstreiten, wissenschaftliche Expertisen, Entschädigungsangebote“ vonseiten der HBL, schließlich technische Innovationen. Die konnten zwar die Umweltverschmutzung nicht gänzlich zurückdrängen, aber eindämmen. Im Hintergrund standen politische Nachbarschaftsverhandlungen zwischen Deutschland und Frankreich und vor allem neue, strengere Umweltbestimmungen in Frankreich selbst. Die nachholende Industrialisierung des Landes provozierte auch eine verspätete Gesetzgebung zur Bändigung der industriellen Umweltschäden. Doch darüber erfahren wir leider nur wenig.

Insgesamt liegt eine die Sachverhalte umfassend beschreibende Studie zu den saarländischen Umweltgrenzkonflikten Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre vor. Der regionalgeschichtliche Fokus dominiert, wenn auch der Autor die einschlägigen umweltgeschichtlichen Studien zu Deutschland und Frankreich zur Kenntnis genommen hat. Was fehlt, ist ein klarer roter Faden, denn Jonas Kaesler greift viele Fäden auf. Auch wäre etwas mehr redaktionelle Sorgfalt erforderlich gewesen. So findet der Leser zwei verschiedene Titelvarianten: „... bis in die 1960er-Jahre“ (Hardcoverumschlag), “... bis in die siebziger Jahre“ (Titelseite). Immer wieder fehlen zwischen einzelnen Worten Leerzeichen, wie überhaupt der Eindruck entsteht, dass es bei der Umsetzung der Computervorlage manche Probleme gegeben hat. Das Literaturverzeichnis ließe sich übrigens auch leicht erweitern. Doch wer sich für die Geschichte des Saarlandes und die umweltgeschichtliche Verflechtung des Raums mit Lothringen interessiert, wer mehr wissen will über die Politisierung der lothringisch-saarländischen Umweltkonflikte vom 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts, wird in Jonas Kaeslers Studie zahlreiche anschauliche Erläuterungen finden.

Anmerkung:
1 Jens Ivo Engels, Naturpolitik in der Bundesrepublik. Ideenwelt und politische Verhaltensstile in Naturschutz und Umweltbewegung 1950–1980, Paderborn 2006.

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